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Unsere Rechtschreibung und die Notwendigkeit ihrer gründlichen Reform

autor

titel

Unsere Rechtschreibung und die Notwendigkeit ihrer gründlichen Reform.

reihe

Säemann-Schriften für Erziehung und Unterricht

band

1

verlag

B. G.Teubner

ort

Leipzig

datum

umfang

24 s.

schrift

antiqua

titel

titel

Vorwort

Die vorliegende Schrift will die Aufmerksamkeit auf einen der wundesten Punkte unseres heutigen Schul­betriebes lenken: auf die mangelhaften Erfolge unseres Rechtschreibe­unterrichts und deren Ursachen. Sie beschreitet dazu einen ganz neuen Weg. Wohl begegnet man häufig der Meinung, daß eigentlich niemand bei uns orthographisch schreiben könne; aber es ist – soweit dem Verfasser bekannt – noch nie der Versuch gemacht worden, diese Behauptung zu beweisen. In dem Zeitalter der experimentellen Psychologie und Pädagogik schien es daher angebracht, auf exaktem Wege zu untersuchen, wie weit jene Behauptung auf Wahrheit beruht. Die über­raschenden Resultate dürften vielleicht mehr als alle theoretischen Auseinander­setzungen die Notwendigkeit einer gründ­lichen Reform unserer Rechtschreibung vor Augen füh­ren. Die Verbesserungsvorschläge sind nicht so zu verstehen, als ob sich der Verfasser unter allen Umständen darauf festlegen will; sie sollen nur ungefähr die Richtung andeuten, in der die Reform einzusetzen hat. Mögen die Meinungen im einzelnen auseinander­gehen; die Hauptsache ist, daß die ganze Bewegung überhaupt in Fluß kommt, daß die Frage in allen beteiligten Kreisen diskutiert und eine gründliche Vereinfachung unseres orthographischen Systems bald in Angriff genommen wird. Wenn die Broschüre dazu an ihrem Teile beitragen kann, so ist ihr Zweck erreicht.

Breslau, 1912.
O. KOSOG.


„Der deutsche Aufsatz ist Kreuz und Krone des Unterrichts zugleich!“ Von diesem geflügelten Worte läßt sich auf einen andern Zweig des deutschen Unterrichts nur der erste Teil anwenden.

Die deutsche Rechtschreibung nämlich ist nichts weiter als ein wahres Schulkreuz; denn wenn man die Zeit, die dafür aufgewendet wird, den Ärger, den sie Eltern und Lehrern bereitet, die Tränen, die um ihretwillen von den Schülern alljährlich vergossen werden, summieren könnte, man würde erschrecken über das Unheil, das dieser Unterrichtsgegenstand Jahr für Jahr anrichtet.

Und der Erfolg? Nun, die Proben zeigen es. Wie das Mädchen aus der Fremde erscheinen in den Tages­blättern nahezu periodisch immer und immer wieder jene schönen Schüleraufsätze und Soldaten­briefe, die von den unsinnigsten stilistischen und orthographischen Fehlern geradezu wimmeln. Sind sie auch nicht immer wahr, so sind sie doch gut erfunden; jedenfalls können sie stets auf einen Heiterkeits­erfolg rechnen. Vielfach aber lösen diese Schriftsätze noch ganz andere Wirkungen aus. Vielen sind sie ein willkommener Anlaß, um auf die arme Volksschule zu schmähen, die so wenig leiste; andere wieder schauen mit höhnischem, über­legenen Lächeln auf die wirklichen oder vermeintlichen Verfasser jener schrift­stellerischen Erzeugnisse herab. Solchen Beurteilern kann man nur zurufen: „Spotten ihrer selbst und wissen nicht wie“; denn nur der hat doch ein Recht, andere wegen minder­wertiger Leistungen zu bespötteln, der sich selbst rühmen kann, alles auf diesem Gebiete restlos zu erfüllen; nur der darf sich also über andere wegen ihrer Verstöße gegen die Rechtschreibung erheben, der imstande ist, jedes, auch das schwierigste Diktat völlig fehlerfrei zu schreiben, und – einen solchen Menschen habe ich bis jetzt trotz eifrigsten Suchens noch nicht gefunden.

Woher kommt das? Die Ursache liegt in der Regel­losigkeit unserer Recht­schreibung. Nicht als ob wir keine Regeln hätten; wir haben deren mehr als zuviel; aber über allen steht als oberste: „Keine Regel ohne Aus­nahme!“

Prüfen wir einmal die wichtigsten Regeln daraufhin. Die Hauptregel unserer Rechtschreibung lautet bekanntlich kurz: „Schreibe, wie du sprichst!“ oder, wie man sich seit Gottscheds Zeiten etwas vorsichtiger auszudrücken pflegt: „Schreibe, was du hörst!“ Das amtliche Regel- und Wörter­verzeichnis kleidet diese Regel in eine etwas gewundenere Form; es besagt aber im übrigen genau dasselbe, wenn es heißt: „Bezeichne jeden Laut, den man bei richtiger und deutlicher Aussprache hört, durch das ihm zukommende Zeichen.“ Sehr schön; wenn man nur immer wüßte, welches dieses Zeichen ist. Daß man es häufig nicht weiß, beruht zunächst in dem Aufbau der Grundlage unserer Recht­schreibung, unserem Alphabet.

Es gibt kaum etwas Regelloseres und Will­kürlicheres als dieses Alphabet. Daß wir es im wesentlichen aus einer fremden Sprache übernommen haben, enthebt uns nicht der Mühe, es auf seinen Wert hin zu prüfen und etwaige Mängel abzustellen. Der Mängel aber sind gar viele. Unser Alphabet bietet nämlich auf der einen Seite zu wenig, auf der andern zuviel. Es bietet zu wenig. Es fehlen besondere Zeichen für die Umlaute, für die Diphthonge, für die einfachen Laute ch und sch sowie für die eigentümliche Laut­verbindung ng und nk. Dieser Mangel ist jedoch nicht von allzugroßer Bedeutung; denn ob die Zeichen für die angegebenen Laute im Alphabet vertreten sind oder nicht, ist schließlich nebensächlich; die Hauptsache ist, daß sie überhaupt vorhanden sind. Schlimmer ist, daß das Alphabet in mancher Hinsicht zuviel bietet. So wird die Lautverbindung ts durch z und c bezeichnet, das w kann auch durch qu und in manchen Wörtern auch durch v ausgedrückt werden, der F-Laut durch f, v und ph. Endlich haben wir außerhalb des Alphabets verschiedene Bezeichnungen für ei und eu, für ü und das offene e. Und wie bei dem Aufbau des Alphabets, so ist es bei den einzelnen Lauten und Lautzeichen; auch hier auf der einen Seite ein Zuwenig, auf der anderen ein Zuviel. So bezeichnen die einfachen Buchstaben z und c die beiden Laute t und s, das einfache x k und s; umgekehrt verwendet man für den einfachen Laut ch zwei Zeichen (die allerdings wieder zwei ganz verschiedene Laute, nämlich einen stimmhaften und einen stimmlosen bezeichnen müssen) und für sch sogar drei Zeichen. Auch die Diphthonge sind ganz willkürlich gebildet; ei hat mit der Zusammensetzung e-i ebensowenig etwas zu tun wie eu mit e-u und ä-u. Nur die Verbindungen a-i und a-u können Anspruch auf Folgerichtigkeit erheben.

Ihren Höhepunkt erreicht die Verwirrung beim S- und beim K-Laut. Das S wird im Alphabet kurzweg durch einen Buchstaben bezeichnet. Nun haben wir aber bekanntlich zwei ganz verschiedene S-Laute, nämlich den harten und den weichen. Beide sollen nun durch ein Zeichen dargestellt werden. Umgekehrt aber haben wir wieder für den scharfen S-Laut allein vier verschiedene Zeichen, nämlich ſ, ß, ſſ und s, und um die Verwirrung voll zu machen, wird ſ in verschiedenen Verbindungen wie sch gesprochen. Dem S-Laute sind denn auch in dem Regel- und Wörterbuche allein zwei Para­graphen gewidmet, und es dürfte nicht allzu viele Erwachsene geben, die alle Regeln über diesen Laut hersagen können. Von dem Kinde dagegen verlangt man, daß es alle diese Regeln in sich aufnehmen und bewußt anwenden soll. Kann es etwas Unnatürlicheres und Unpsychologischeres geben?

Ganz ähnlich wie bei dem S ist es bei dem K. Der K-Laut kann bezeichnet werden durch k, ck, c, ch, qu, x und, da wir im Auslaute vielfach die stimmhaften und die stimmlosen Stoßlaute nicht unterscheiden, auch durch g und gg. Das sind acht verschiedene Bezeichnungen für einen einzigen Laut. (Von der Bezeichnung cc kann abgesehen werden, da sie nur in Fremdwörtern vorkommt und durch kz ersetzt werden kann.)

Wohin eine derartige Häufung der Schriftzeichen führt, soll an einem drastischen Beispiele gezeigt werden, nämlich an dem Worte Fuchs, also an einem Worte von nur vier Lauten. Dieses könnte folgendermaßen geschrieben werden: Fuks, Vuks, Phuks, Fucks, Vucks, Phucks, Fugs, Vugs, Phugs, Fuggs, Vuggs, Phuggs, Fuchs, Vuchs, Phuchs; Fukſ, Vukſ, Phukſ, Fuckſ, Vuckſ, Phuckſ, Fugſ, Vugſ, Phug ſ, Fuggſ, Vuggſ, Phuggſ, Fuchſ, Vuchſ, Phuchſ; Fukſſ, Vukſſ, Phukſſ, Fuckſſ, Vuckſſ, Phuckſſ, Fugſſ, Vugſſ, Phugiſ, Fuggſſ, Vuggſſ, Phuggſſ, Fuchſſ, Vuchſſ, Phuchſl; Fukß, Vukß, Phukß, Fuckß, Vuckß, Phuckß, Fugß, Vugß, Phugß, Fuggß, Vuggß, Phuggß, Fuchß, Vuchß, Phuchß; Fux, Vux, Phux. Das sind 63 – dreiundsechzig – verschiedene Schreibweisen, und alle 63 entsprechen der berühmten Regel: „Schreibe, was du hörst!“

Das Regel- und Wörterbuch betont denn auch, daß Laut und Lautzeichen vielfach nicht überein­stimmen und daß deshalb weitere Regeln notwendig seien. Wenn es nur nicht bei diesen wieder so viele Ausnahmen gäbe. Leider finden wir sie aber schon bei der zweiten Hauptregel: „Wo derselbe Laut auf verschiedene Weise dargestellt werden kann, richte dich nach der Abstammung des Wortes“. Nun denke man sich, man wolle das Wort „behende“ erklären; be = bei, hende ist abgeleitet von Hand, behende also = bei der Hand sein. Da Hand mit a geschrieben wird, so schließen die Kinder, daß behende mit ä geschrieben werden müsse; ähnlich Eltern = die Älteren, Stengel = kleine Stange, Wildbret = gebratenes Wild, fertig = zur Fahrt bereit sein usw. In allen diesen Fällen verführt also das Nachdenken über die Abstammung des Wortes zur falschen Schreibweise.

Und nun die Schärfung. Das Regelbuch sagt, daß die Kürze des Selbstlauts überhaupt nur in betonten Silben, die nur auf einen Mitlaut ausgehen, bezeichnet wird, und zwar durch Verdoppelung dieses Mitlauts. Wenn man nur diese Regel konsequent durchführen wollte. Doch auch hier folgen auf die Regeln sofort die Ausnahmen. So schreibt man nebeneinander an, dann und wann, gen, denn und wenn. Sodann unterbleibt die Verdoppelung in dem Bestimmungs­wort einiger Zusammen­setzungen wie Brombeere, Himbeere, Damwild, Lorbeer, Herberge, Herzog, Hermann, Marschall, Walnuß, Singrün. Während man also bei den im vorigen Abschnitt erwähnten Wörtern die Abstammung ohne weiteres über Bord wirft, hält man hier zäh daran fest. Ob es dem gemeinen Manne möglich ist, die Abstammung zu erkennen, darnach wird nicht gefragt. Seltsam ist auch die dritte Ausnahme. Beim Zusammentreffen von drei Konsonanten ist es – außer bei Silbentrennung – freigestellt, zwei oder drei Konsonanten zu schreiben, nur bei den Zusammensetzungen dennoch, Mittag und Dritteil nicht. Warum man gerade diese drei Worte ausgenommen hat, ist nicht einzusehen; man gewinnt den Eindruck, daß es nur deshalb geschehen ist, damit es die Schüler nicht zu leicht hätten. Eine folgerichtige Durchführung der Schärfung hätten wir bei den Nachsilben mit Nebenton, wenn auch sie nicht wieder bei Bräutigam, Eidam und Pilgrim durchbrochen würde.

Schlimmer als die Schärfung ist die Dehnung. Zunächst sagt das Regelbuch, daß die Länge des Selbstlautes meist nicht besonders bezeichnet wird; unmittelbar dahinter aber heißt es, daß sie in zahlreichen Wörtern bezeichnet wird, und zwar, wie männiglich weiß, nicht durch ein, sondern durch drei verschiedene Zeichen. Daher kommt es, daß wir nebeneinander schreiben: Ar, Aar, Ahr; wir, ihr, vier; ihnen, dienen, Minen; baten, Saaten, nahten (früher auch noch Thaten); Faden, Vater, fahren, Pharao; Fibel, fielen, viele, Vieh, Philosophie; also für völlig gleichklingende Silben bis sechs verschiedene Schreibweisen.

Nur unter einem solchen orthographischen System konnten in den Übungsheften Satzgebilde heimisch werden wie die folgenden: Die Wellen zerschellten trotz Fluchen und Schelten den Fischer und Kahn. – Tief verletzt empfahl er sich und trat hinaus, steif wie ein Pfahl und fahl wie die Wand. – Auf dem Dome schreien die Ausrufer für wenig Geld, daß es einem ordentlich in den Ohren gellt und den ganzen Aufenthalt daselbst vergällt. – Der starke Held hält den Schild in der Hand und schilt auf den Feind. Dieser, mit Waffen gut bewehrt, wehrt sich tapfer und bewährt sich als ein würdiger Gegner. Der Kampf währt lange Zeit; einer ist des andern wert. – Der Jäger steigt in die Jacht, fährt über das Wasser auf die Jagd und jagt Rebhühner und anderes Wildbret. – Das Schiff glitt sanft in den Hafen von Cuxhaven, und eine angenehme Brise küßte die Küste. – Oder gar: Der Schuster saß in einer Allee und stach mit einer Ahle alle Aale tot.1) Solch kuriose Übungsbeispiele entlocken natürlich jedem Leser ein Lächeln; aber sie zeigen zugleich, welche Absonderlichkeiten wir immer noch mit uns herumtragen.


1) Hierher gehört auch das bekannte Verschen von der Feuerwehr:

„Es kommt gerasselt die Feuerwehr,
Um zu sehen, wo denn das Feuer wär’;
Sie kommt, damit sie dem Feuer wehr’,
Auf daß nicht zu lange das Feuer währ’;
Denn wer löscht am besten das Feuer? Wer?
Das ist unsre brave Feuerwehr.“

Und doch ist alles bisher Erwähnte Kinderspiel gegenüber der Groß- und Kleinschreibung. Daß jedes erste Wort eines Satzganzen groß geschrieben wird, ist wohl ganz natürlich. Stutzig wird man schon bei allen wirklichen Hauptwörtern, da, wie sich im folgenden zeigt, es vielfach gar nicht so leicht ist, die wirklichen Hauptwörter von den scheinbaren zu unterscheiden. Ob es sodann notwendig ist, die Großschreibung der Anredefürwörter in Briefen aufrecht zu erhalten, kann zweifelhaft erscheinen; allerdings bietet dieses Kapitel keine nennenswerten Schwierigkeiten. Zu ernsten Bedenken dagegen gibt die folgende Bestimmung Anlaß: die Groß­schreibung von Titeln und Namen. Wozu das? Dem Königlich Preußischen Zollamt, dem Wirklichen Geheimen Rat wird nicht das Geringste von ihrer Würde genommen, wenn man ihnen auch den kleinen Anfangsbuchstaben gibt. Zudem aber: Was ist ein Titel? Die Ansichten gehen darüber sehr weit auseinander. So finden wir Bezeichnungen wie der Dreißigjährige Krieg, der Siebenjährige Krieg in einem Geschichts­werke groß, in einem andern klein; ja, in demselben Werke finden wir schließlich unmittelbar nebeneinander „Die schlesischen Kriege“ und der Siebenjährige Krieg“. Hier setzt also bereits eine gewisse Willkür ein. Unnötige Schwierigkeiten finden sich sodann bei den von Personennamen abgeleiteten Eigenschaftswörtern. Warum sollen wir unterscheiden die Luthersche Bibelübersetzung und die lutherische Kirche, Homers Ilias und ein homerisches Gelächter, das Salomonische Urteil und ein salomonisches Urteil? Ebenso ist es mit den von Volks- und Ortsnamen abgeleiteten Eigenschaftswörtern auf „isch“ und „er“. Man vergleiche Kölner Dom und kölnisches Wasser, Meißner und chinesisches Porzel­lan, Tiroler und italienischer Marmor, Florentiner und englische Hüte, russische Pelze und Züricher Seide, Schweizer Käse und norwegische Fische usw. Bei derartigen Beispielen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als wenn die Unterschiede absichtlich an den Haaren herbeigezogen wären, um nur die Schwierigkeiten soviel als möglich zu steigern. Noch schlimmer aber wird es bei der letzten Bestimmung, wonach Wörter aller Art, wenn sie als Hauptwörter gebraucht werden, groß, dagegen Hauptwörter, wenn sie die Bedeutung anderer Wortarten annehmen, klein zu schreiben sind. Hierbei zeigt sich nun die außerordentliche Schwierigkeit, zu entscheiden, ob ein Wort als Hauptwort anzusehen ist oder nicht. Das Regelbuch gibt das selbst in der Schlußbemerkung zu, wo es heißt: „In zweifelhaften Fällen schreibe man mit kleinen Anfangsbuchstaben“. Eine derartige Bemerkung dürfte eigentlich in einem amtlichen Buche nicht stehen; denn damit ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Auf Grund dieser Anmerkung könnte jemand, wie es auch schon vorgekommen ist, alles klein schreiben und dann sagen, das seien ihm zweifelhafte Fälle gewesen, und er habe sie deshalb der Anweisung im Regel- und Wörterbuche gemäß klein geschrieben.

Und wie scharf werden doch in Konrad Dudens Wörterbuche der große und der kleine Anfangsbuchstabe auseinander gehalten. Man beachte folgende Beispiele: erste; erstere; erstens; fürs erste; am ersten; zum ersten; zum erstenmal; zum ersten Male; das erste Mal und das erstemal; das erste (was ich höre), der erstbeste, der erste der beste; er ist der Erste (Primus in der Klasse); die Ersten werden die Letzten sein; der Erste des Monats; die Erst(e), in der Erst(e), für die Erst(e) = anfangs. Ebenso: das Weit, die Weite, größte Weite eines Schiffes; weit; weiter; der weiteste; bei weitem, von weitem; ohne weiteres, bis auf weiteres, im weiteren, des weiteren dar­legen, aber: des (oder: alles) Weiter(e)n sind wir überhoben; das Weitere, ein Weiteres, Weiteres (= das Genauere, Ausführlichere) findet sich bei ihm; das Weite suchen; meilenweit, ganze Meilen weit; häuserweit; soweit (insoweit) es angeht; inwieweit er recht hat; die Weite; weiten; weitern; weither; er ist nicht weit her.

Solche und ähnliche Beispiele finden sich bei Duden in Menge. Allerdings ist es unter Umständen gar nicht so schwer, die richtige Schreibweise festzustellen. So erschien vor kurzem in der Sprachecke des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins folgende Notiz:

„deutsch oder Deutsch? französisch oder Fran­zösisch?

Große Unsicherheit herrscht allenthalben über die Groß- oder Kleinschreibung der von Volksnamen abgeleiteten Eigenschafts­wörter. Und doch ist der Unterschied gar so leicht, man braucht nämlich nur zuzusehen, ob das Eigenschaftswort auf „was?“ oder auf „wie?“ antwortet. Also: Reden wir zunächst deutsch (wie?). Er kann nicht Deutsch (was?), deshalb mußt du englisch (wie?) mit ihm sprechen. Sprechen Sie gut Französisch? (was?). Er spricht nur Französisch (was?), und Karl sprach daher ihm zuliebe nur französisch (wie?) mit ihm. So kann, lernt, schreibt, spricht man Deutsch, Französisch, Chinesisch usw. (was? Antwort: das Deutsche usw.), aber man kann auch deutsch, französisch, chinesisch usw. sprechen und schreiben, wenn es sich aufs Wie bezieht, also gleichbedeutend ist mit „auf deutsch“ usw. Es kann also heißen: Ich muß Deutsch mit ihm üben, aber: Ich muß deutsch mit ihm sprechen, d. h. entweder auf deutsch oder auch in dem bekannten drohenden Sinne: ihm einmal gründlich die Wahrheit sagen. So heißt es also auch: er spricht gut Deutsch (gutes Deutsch), aber im Französischen ist er noch unsicher; der Brief ist deutsch geschrieben; auf deutsch lautet das ganz anders als auf englisch. Es bedarf also nur kleiner Mühe, sich Klarheit zu verschaffen, um Deutsch richtich deutsch schreiben zu können.

Für diesen besonderen Fall mag die „Sprachecke“ recht haben. Ob es aber in allen Fällen so ist? Diese Frage kann nicht durch die Theorie, sondern nur durch die Praxis gelöst werden. Ich veranstaltete deshalb eingehende Versuche mit folgendem Diktate, entnommen aus Joseph Lammertz: „Die deutsche Rechtschreibung für das deutsche Volk“; mit einigen Kürzungen wiedergegeben bei Joh. Meyer: „Methodischer Leitfaden für den Unterricht in der Rechtschreibung“, Leipzig 1905, S. 222. Das Diktat hat folgenden Wortlaut:

Aus dem Testamente einer Mutter.

Liebe Kinder!

Heute nacht1) nahm ich mir vor, Euch diesen Morgen2) einige Lehren fürs Leben des nähern3) niederzuschreiben. Leset sie oftmals durch, so werdet Ihr Euch bei Gelegenheit des Nähern4) entsinnen und danach handeln.

Zwar kann ich Euch nur etwas weniges5) hinterlassen, aber Euch etwas Gediegenes6) lernen zu las­sen, dazu habe ich mein Bestes7), ja mein möglichstes8) getan. Ihr seid alle gut im Stande9), so daß Ihr imstande10) seid, Euch redlich durchzuschlagen. Sollte jedoch einer von Euch in Nöten11) sein, so ist es durchaus vonnöten12), daß Ihr Euch gegenseitig helft. Seid stets willens13), Euch untereinander zu Willen14) zu sein. Irrt einer von Euch, sollen die übrigen15) ihn eines andern16) und zwar eines Bessern17) zu belehren versuchen. Achtet jedermann, Vornehme und Geringe18), arm und reich19). Seid keinem feind20), denn jemandes Feind21) sein bringt oft Unheil. Tut niemand ein Leid22) an, so wird man auch Euch nicht leicht etwas zuleide23) tun. Euer seliger Vater sagte oft zu seinen Kindern: „Tut nie Böses24), so widerfährt euch25) nichts Böses.“ Macht Euch eine abrahamsche26) Friedfertigkeit zu eigen, indem Ihr nach dem Abrahamschen27) Wort handelt: „Gehst du28) zur Rechten29), so gehe ich zur Linken“30). Wer von Euch der klügste31) sein will, der handle nach dem Sprichwort: „Der Klügste32) gibt nach“. Tut nie unrecht33); seid Ihr aber im Rechte34), so habt Ihr recht35), ja das größte Recht36), wenn Ihr Euer Recht sucht, und Ihr werdet alsdann im allgemeinen37) auch recht38) behalten. Laßt nichts außer acht39), ja außer aller Acht40), wenn Ihr Freundschaft schließt; wählt nicht den ersten besten41) als Freund und sorgt, daß Ihr unter Euern Mitarbeitern nie die Letzten42) seid. Wollt Ihr Wich­tiges43) zuwege44) bringen, so müßt Ihr ernstlich zu Werke45) gehen. Zieht nie eine ernste Sache ins lächerliche46), denn etwas Lächer­licheres47) gibt es nicht. Verachtet nie das Leichte48), dann wird es Euch schließlich ein leichtes49), das Schwierigste50) zu überwinden. Es ist aber das schwierigste51), daß man sich selbst bezwingt. Seid Ihr in einer Angelegenheit im dun­keln52), so übt Vorsicht, denn im Dunkeln53) stößt man leicht an. Seid auch im Geringsten54) nicht im ge­ringsten55) untreu. Zum letz­ten56) rate ich Euch folgendes57): Befolgt das Vorstehende58), so braucht Euch nicht angst59) zu sein; ohne Angst60) könnt Ihr dann zu guter Letzt61) auf das beste62) stand­halten63), auf das Beste64) hoffen und dem Schicksal Trotz65) bieten.


1) Beide sind Umstands­wörter. 2) diesen ist Beifügung. 3) wie? 4) wessen? 5) Zahlbegriff. 6) Zum Hauptwort er­hobenes Eigenschafts­wort, äußerlich als Hauptwort zu erkennen durch Beifügung von „etwas“. 7) wie 6. 8) Zahlbegriff = soviel wie möglich. 9) in gutem Zu­stande, bei guter Gesundheit. 10) = fähig. 11) worin? läßt auch Beifügung zu, nämlich „großen“. 12) = sehr nötig. 13) = gewillt. 14) Stehende Verbindung mit Zeitwort, und zwar nicht in verblaßter Bedeutung, ähnlich wie: zu Tische sitzen; sieh aber „zuwege brin­gen“! 15) Fürwort. 16) wessen? aber Fürwort? 17) wessen? zum Hauptwort erhobenes Eigenschafts­wort. 18) Enthält Begriff „Mensch“, also Sinnen­dingwort. 19) enthält auch „Mensch“, läßt sich aber nicht umenden. 20) = feindlich. 21) „jemandes“ ist Beifügung zu Feind. 22) „großes“ läßt sich vorsetzen. 23) verblaßte Bedeutung. 24) „etwas läßt sich vorsetzen. 25) betrifft nicht die im Briefe Angeredeten. 26) Der Fried­fertigkeit des Abraham ähnliche. 27) Wort des Abraham. 28) wie 25. 29) und 30) Begriff „Seite oder Hand“, mithin Sinn­dingwort. 31) von mehreren. 32) enthält „Mensch“ 33) bis 36) und 38) recht haben = richtig gesprochen, gehandelt haben; in diesem Sinne recht geben, tun, behalten, aber: das größte Recht (größte ist Beifügung) haben – ein Recht haben = Anrecht; Recht sprechen = Gerichtete, Gesetz. 37) allgemein, nicht in etwas Allgemeinem. 39) verblaßte Bedeutung. 40) aller ist Beifügung. 41) der Reihe nach. 42) der Würde nach. 43) was? „etwas“ läßt sich vorsetzen. 44) sieh 33, 39. 45) sieh 14. 46) „etwas läßt sich vorsetzen. 47) „etwas“ ist Beifügung. 48) was? 49) wie? 50) was? 51) wie? sehr schwierig, am schwierigsten. 52) wie? 53) wo? Ort, also Sinnen­dingwort. 54) worin? in etwas Geringem. 55) wie sehr? 56) Zahlbegriff. 57) „etwas“ läßt sich innerhalb des Satzes nicht vorsetzen. 58) „alles“ läßt sich vorsetzen. 59) ängstlich. 60) „große“ Angst. 61) guter ist Beifügung zu „Letzt“ = „Abschieds­mahl“. 62) wie? 63) was tun? nicht: was halten? 64) worauf = auf was? auf etwas Gutes. 65) was bieten?


Anmerkung: Die Begründungen sind aus Meyer entnommen; ob sie sich bei Lammertz auch finden, konnte nicht festgestellt werden. – Verstöße gegen die Schreibung bei 25 und 28 wurden nicht angerechnet; sonst wäre die Fehler­zahl noch höher gewesen, da manche Versuchs­personen keinen Unterschied in der Anrede machten, andere das Testament überhaupt nicht als Brief ansahen und demgemäß alle Anrede­fürwörter klein schrieben.

Dieses Diktat lernte ich zufällig durch einen Kollegen kennen. Ich warf einen flüchtigen Blick auf den ersten Satz, und sofort schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß das Diktat vortrefflich zu einem praktischen Versuche geeignet sei. Ich wartete nun, um jenen flüchtigen Eindruck zu verwischen, etwa drei Jahre und ließ mir sodann das „Testament“ in die Feder diktieren. Dabei machte ich fünf Fehler, von denen sich einer allerdings nicht im „Duden“ fand; rechnet man diesen ab, so bleiben immer noch vier, für einen Lehrer jedenfalls sehr viel. Ich hätte jedoch wahrscheinlich noch mehr Fehler gemacht, wenn ich nicht mehrere Jahre hindurch Unterricht im Deutschen an einem höheren Lehrerinnenseminare erteilt hätte und dadurch mit den Feinheiten unserer Rechtschreibung vertraut geworden wäre.

Bald sollte sich jedoch zeigen, daß ich eigentlich eine glänzende Leistung vollbracht hatte. Der Versuch wurde nämlich zunächst an 30 Lehrern wiederholt; dabei betrug die geringste Fehlerzahl 4, die höchste 22, der Durchschnitt 13. 2 Subaltern­beamte lieferten Diktate mit 23 und 24, im Durchschnitt also mit 23½, Fehlern. Sodann wurde das Diktat von 8 Frauen, die sämtlich mindestens eine höhere Mädchenschule besucht hatten, nieder­geschrieben. Dabei machte eine Dame 13 Fehler; sodann stieg die Fehlerzahl sofort auf 22 und endlich bis auf 30, während der Durchschnitt 24 betrug. Nicht viel besser war es bei 10 Herren mit akademischer Vorbildung (Mediziner, Juristen, Dozenten der Philosophie); ihre Arbeiten wiesen 14–30, im Durchschnitt 20½ Fehler auf. 10 studierende Damen machten 12–21, durchschnittlich 16 Fehler und 12 studierende Herren 14–32, im Durchschnitt 21 Fehler. Der einzige Oberlehrer endlich, der sich der Prüfung unterzog, lieferte eine Arbeit mit 18 Fehlern.

Diese Zahlen machten die Runde durch einen größeren Teil der deutschen Presse, und die Folge war, daß ich viele Dutzende von Zuschriften aus dem In- und Auslande erhielt, die in dem Wunsche gipfelten, das seltsame Diktat kennen zu lernen. Auf diese Weise kam eine Menge neues Material hinzu, das die oben angeführten Zahlen voll und ganz bestätigte. In einem Falle (aus Siebenbürgen) wurde die oben erwähnte höchste Fehlerzahl von 32 noch etwas überboten, und in einem Töchter­pensionat stiegen die Fehler sogar bis auf 74. Alle Einsender waren sich darin einig, daß niemand das Diktat richtig schreiben könne, und wer in dieser Hinsicht vor Kenntnis des Diktats Zweifel geäußert hatte, erklärte alsbald, daß er durch den praktischen Versuch von einem Saulus zu einem Paulus geworden sei.

Nun könnte man dem vorliegenden Diktat mit dem Einwande begegnen, daß die Schwierigkeiten darin absichtlich gehäuft seien. Das ist allerdings richtig; aber einmal läßt sich doch nur an einer schweren Aufgabe nachweisen, ob man ein Gebiet gründlich beherrscht, und zum anderen liegt auch in dem Diktat selbst eine bedeutende Erleichterung. Diese besteht darin, daß die einzelnen Fälle der Groß- und Kleinschreibung immer einander gegenüber­gestellt sind, z. B. des nähern – des Nähern, etwas weniges – etwas Ge­diegenes, mein Bestes – mein möglichstes, auf das beste standhalten – auf das Beste hoffen, abrahamsche Friedfertigkeit – Abrahamsches Wort usw. Der Schreiber merkte deshalb alsbald, worauf es ankam, und er sagte sich, daß die eine Form stets klein, die andere groß geschrieben werden müsse. Natürlich konnte das Gefühl dabei einmal falsch leiten, so daß er schließlich zwei Fehler hintereinander machte. Das war jedoch nur in sehr geringem Maße der Fall; viel häufiger wurde instinktiv das Richtige getroffen. Die vielen Verbesserungen in den einzelnen Nieder­schriften zeigten ganz deutlich, daß die Versuchspersonen häufig erst dann auf die Schreibweise eines Wortes aufmerksam wurden, wenn dieser eine ähnliche Form gegenüber­gestellt wurde. Würde man das Diktat derartig umgestalten, daß die ähnlichen Formen nicht mehr beisammen­stünden, so würde die Fehlerzahl jedenfalls um noch weitere 50% steigen. Sie ist jedoch auch so schon gerade hoch genug; denn wenn die Diktate in der Schule geschrieben worden wären, so hätten sie fast durchweg mit „völlig ungenügend“ bewertet werden müssen. Wenn das aber an dem grünen Holz der Höchstgebildeten unseres Volkes geschieht, was soll da am dürren der weniger Gebildeten werden?

Angesichts solcher Ergebnisse fragt man sich verwundert, wie es möglich ist, daß wir derartigen Ballast immer noch mit uns herumschleppen, um so mehr, als wir in den letzten Jahrzehnten wiederholt Reformen unserer Rechtschreibung gehabt haben, nämlich die Puttkamersche von 1880 und die neuere vom Jahre 1901.

Die Puttkamersche Reform krankte jedoch von vornherein an verschiedenen Mängeln; erstens verfuhr sie viel zu wenig durchgreifend, und zweitens galt sie nur für Preußen, während andere Staaten ihre Rechtschreibung für sich behielten, so daß der Deutsche, der in einen derartigen Bundesstaat übersiedelte, gezwungen war, umzulernen. Aber auch innerhalb des preußischen Staatsgebietes war ein solches Umlernen für gewisse Staatsbürger notwendig, nämlich für die Beamten. Es ist bekannt, daß, als Bismarck das erste Schriftstück in der neuen Rechtschreibung zu Gesicht bekam, er sofort erklärte, im amtlichen Verkehr dürfe die neue Orthographie nicht angewandt werden, da müsse es bei der alten verbleiben. Und so war denn jeder junge Mann, der in den Staatsdienst trat, gezwungen, das in der Schule Gelernte zum Teil zu vergessen und sich die amtliche Schreibweise anzueig­nen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, wegen seiner „unorthographischen Schrift“ zur Rechenschaft gezogen zu werden. Am schlimmsten waren die Schuldirektoren daran, da diese in der Schule die neue, im amtlichen Verkehr dagegen die alte Rechtschreibung anwenden mußten. Übrigens scheinen die Auffassungen der einzelnen Regierungen in dieser Hinsicht ganz verschieden gewesen zu sein, wie folgende Anekdote beweist, die zugleich die ganze Ungeheuerlich­keit des damaligen Zustandes grell beleuchtet. Ein Lehrer richtete eine Eingabe an die Königliche Regierung, Abtheilung für Kirchen- und Schulwesen, und schrieb Abtheilung der amtlichen Vorschrift gemäß mit h. Nach kurzer Zeit erhielt er das Schriftstück mit dem Bemerken zurück, er habe Abteilung nach der neuen Orthographie ohne h zu schreiben. Darunter aber stand: „Königliche Regierung, Abtheilung für Kirchen- und Schulwesen“ mit h.

Gegenüber diesen Zuständen bedeutete die Reform von 1901 einen großen Fortschritt, denn sie beseitigte nicht nur den Zwiespalt zwischen Schul- und amtlicher Orthographie, sie führte auch eine einheitliche Schreibweise für Deutschland, Österreich und die Schweiz herbei. So hoch aber auch diese Verdienste anzuschlagen sind, so war doch auch die neueste Reform nicht frei von Mängeln. Auch sie hat zunächst wieder ein eigenartiges Doppelwesen geschaffen. Während bekanntlich die neueste Schul­orthographie gewisse Freiheiten gestattet, haben sich die Buchhändler für eine einheitliche Schreibweise erklärt, so daß manches, was nach jenem System als richtig gilt, nach diesem falsch ist. Sodann krankt aber auch die neueste Reform an dem Hauptfehler ihrer Vorgängerin: sie hat wie diese ebenfalls viel zu wenig durchgreifend verfahren. Was sie geändert hat, ist so geringfügig, daß es auf wenigen Druckseiten zusammen­getragen werden konnte, während der „große Duden“ noch heute gegen 400 eng bedruckte Seiten umfaßt, und wie groß die Schwierigkeiten unserer heutigen Rechtschreibung noch heute sind, haben die angestellten Versuche zur Genüge gezeigt.

Nun fragen wir: Weshalb sind wir trotz der beiden Reformen noch nicht weiter gekommen? Es soll nicht verkannt werden, daß jede Reform mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte; namentlich wird es nicht leicht gewesen sein, die drei deutsch sprechenden Länder unter einen Hut zu bringen. Der Hauptgrund liegt jedoch tiefer; er beruht in dem zähen Festhalten an dem historischen, oder wie man eigentlich richtiger sagen müßte, an dem sogenannten historischen Prinzip.

Die Historiker wurzeln mit ihren Anschauungen in der Vergangenheit; sie sagen, weil in früheren Jahr­hunderten so geschrieben wurde, weil uns die Schrift in gewissen Formen überliefert worden ist, darum müssen wir auch heute diese Formen beibehalten. In vollständigem Gegensatz zu ihnen stehen die Phonetiker, die betonen, daß nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart für die Schreibweise maßgebend sein müsse; nicht von den Schrift­formen früherer Jahrhunderte müsse man ausgehen, sondern von der lebenden Sprache.

Nun ist es gewiß etwas sehr Schönes und Erhabenes um den geschichtlichen Sinn, und es wäre sehr traurig, wenn unser Volk jemals des Dichterwortes vergessen sollte: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“. Das historische Prinzip darf jedoch nicht übertrieben werden, so daß man Veraltetes, längst Überlebtes künstlich festhalten will; denn dann wird Vernunft Unsinn, Wohltat Plage. Gerade das soeben zitierte Dichterwort warnt uns vor Stillstand und mahnt eindringlich zu einem gesunden Fortschritt. Diesen Fortschritt finden wir auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, auf religiösem, auf politi­schem, auf sozialem, auf wirtschaftlichem, und was sich ihm entgegenstemmt, über das schreitet die Zeit kühn und unbeirrt hinweg. Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.

Nun könnte man einwenden: auf jenen Gebieten mag wohl der Fortschritt angebracht sein; hier aber handelt es sich um das köstlichste nationale Gut, um die Sprache. Handelt es sich jedoch wirklich darum? Scheinbar wohl, aber eben nur scheinbar; denn das Wesentliche der Sprache ist doch sein Laut- und Wortschatz, die Satzkonstruktion, der Inhalt; die Schreibweise dagegen ist etwas Nebensächliches, nichts weiter als die äußere Form, das Gewand der Sprache.

Über die Bedeutung des historischen Vorrechts bezüglich des Wesentlichen in der Sprache aber sagt Siebs: „Dieser Grund (gewisse Forderungen für die Aussprache mit dem historischen Vorrecht verteidigen zu wollen) ist völlig haltlos; denn die Erwägung, wie vor Jahrhunderten gesprochen worden ist, kann für die heutige Aussprache nie und nimmer maßgebend sein, sonst würden wir zu den ungeheuerlichsten Forderungen kommen. Zudem läßt sich für diesen Fall ein historisches Vorrecht gar nicht bestimmen: man könnte mit dem gleichen Rechte die Lautverhältnisse des 16. Jahrhunderts heranziehen wie die des 12., 9., 1. Jahrhunderts oder noch früherer Zeiten.“

Wenn ein maßgebender Vertreter der Wissenschaft gegenüber dem Wesentlichen unserer Sprache so freie Anschauungen vertritt, warum sollen wir bezüglich der Form engherziger sein.

Man könnte aber vielleicht das historische Prinzip auf die Rechtschreibung in vollem Umfange gelten lassen, wenn gewisse Voraussetzungen zuträfen.

So müßte es zunächst in jeder, auch in der einfachsten Dorfschule, möglich sein, eingehend Sprachgeschichte zu treiben. Dazu gehörte aber mindestens Kenntnis des Alt- und Mittelhochdeutschen, und darüber, daß diese Kenntnis aus Mangel an Zeit und vor allem an Verständnis nicht zu erzielen ist, braucht man erst keine weiteren Worte zu verlieren.

Aber vielleicht ist ein eingehendes Studium der Sprach­geschichte wenigstens an den höheren Lehranstalten angebracht und für die Rechtschreibung nutzbrin­gend. Auch das ist nicht der Fall, denn erstlich sollen doch nicht bloß die gebildeteren, sondern alle Volks­schichten richtig schreiben lernen, und deshalb hätte eine Betrachtung der historischen Entwickelung unseres Sprachgewandes wenig Zweck; sodann aber, und das ist das Entscheidende, wäre eine derartige Betrachtung für die Zöglinge der höheren Lehranstalten selbst doch nutzlos, da sie dadurch nicht orthographisch schreiben lernen würden. Wäre dies der Fall, dann müßten diejenigen, die sich am eingehendsten mit der Entwickelung der deutschen Sprache beschäftigen, die Germanisten, völlig fehlerfrei schreiben. Das ist jedoch durchaus nicht der Fall, wie unsere Versuche schlagend bewiesen haben, denn die Germanistik studierenden Damen und Herren wiesen durchaus keine besseren Leistungen auf als die übrigen Studierenden; die völlige Vertrautheit mit der Geschichte unserer Sprache schützte sie nicht davor, 20–30 Fehler zu machen.

Dieses Resultat wird Uneingeweihte überraschen; dem Germanisten selbst ist es jedoch durchaus nicht überraschend. Warum nicht? Nun, weil es mit dem historischen Prinzip bei unserer Sprache eine eigene Bewandtnis hat. Von einem wirklichen historischen Prinzip können wir doch nur da sprechen, wo es sich um eine folgerichtige organische Entwickelung handelt. Das ist aber bei unserer Sprache keineswegs überall der Fall, wie an einigen Beispielen gezeigt werden soll.

Betrachten wir zunächst kurz die Geschichte des Dehnungs-h. Dem Mittelhochdeutschen war das Dehnungs-h völlig unbekannt; das h bezeichnete vielmehr im Anlaut der Wörter einen Hauchlaut, im In- und Auslaute dagegen einen Reibelaut, gesprochen wie ein schwaches ch. Dieser Laut ging allmählich verloren, und zwar entwickelte er sich einerseits zu ch (z. B. niht = nicht), anderseits zu einem bloßen Hauche, der schließlich gar nicht mehr hörbar war, aber weiter geschrieben und für ein Trennungszeichen gehalten wurde (z. B. sehen = se-en). In manchen Wörtern, wie gemahele = Gemahl, mâhen = Mohn, bühel = Bühl fiel das dem h nachfolgende e weg, so daß das h nun auch kein Trennungszeichen mehr war. Daneben entwickelte sich das h auch aus anderen Konsonanten, wie aus w (rouwe = Ruhe), aus j (blæjen = blähen), aus g (agene = Ahne = Stengelsplitter von Flachs oder Hanf), sowie durch Umstellung von Buchstaben (z. B. bevëlhen = befehlen, merhe = Mähre usw.). In allen diesen Fällen haben wir also eine organische Entwickelung des h. In der allgemeinen Schreibverwirrung des 15. und 16. Jahrhunderts aber vergaß man diese Entwickelung vollständig und faßte das h ganz allgemein als Dehnungszeichen auf. Damit aber war der Willkür Tür und Tor geöffnet, von der sich selbst der Schöpfer unserer neuhochdeutschen Sprache nicht fernhielt; man schrieb eben so viele Dehnungs-h, wie dem einzelnen beliebte. Ja, noch nicht zufrieden damit, das h an die Vokale anzulehnen, verband man es auch mit Konsonanten. Damals entstand unter dem Einfluß des Humanismus das nun glücklich fast ganz überwundene th und das noch in einzelnen Worten wie Rhein, Rhin, Rhön, Rhede, Rhabarber usw. bis auf den heutigen Tag erhaltene rh. Das h wurde, wie der Sprachgelehrte Schottel sagte, „ein vorwitziger Buchstabe, der immer vorn und hinten sein wollte und der Sprache doch gar keine Hilfe tue“. Diese kurze Darlegung dürfte genügen, um zu zeigen, was für ein eingehendes Studium und – welches Gedächtnis dazu gehört, das wurzelhafte h von dem nicht wurzelhaften zu unterscheiden. So schrieb man noch im Mittelhochdeutschen Ahn (Vorfahr), ahnden, Bahn, Bahre, Bohle, Bohne, bohren, Buhne usw. durchweg ohne h; heute ist die Zahl dieser Wörter mit unorganischem h auf viele Hunderte gestiegen.

Ganz ähnlich verlief die Entwickelung des sogenannten Dehnungs-e. Auch dieses hatte ursprünglich mit Dehnung gar nichts zu tun. Es ist vielmehr vielfach entstanden durch Schwächung des mittelhochdeutschen ie, hervorgegangen aus io, das wieder durch Brechung aus dem Diphthong iu entstanden ist (z. B. gotisch thiubs, althochdeutsch diop, mittelhochdeutsch diep, neuhochdeutsch Dieb). Eine andere Gruppe ist zurückzuführen auf die Reduplikation, d. i. die Wiederholung der Wurzelsilbe zur Bildung des Präteritums (z. B. gotisch haihald, haiald, althochdeutsch hiald, mittelhochdeutsch hielt, neuhochdeutsch hielt). Endlich entstand das ie auch durch Trübung des ü (z. B. althochdeutsch muodar, mittelhochdeutsch müeder, neuhochdeutsch Mieder). Während im Mittelhochdeutschen das i-e noch getrennt gesprochen wurde, verschwand am Ausgange des Mittelalters die Aussprache des e mehr und mehr, und nun wiederholte sich dasselbe, was wir schon beim h gesehen haben. Man hielt das e für ein Dehnungszeichen und setzte es ganz willkürlich hinter i, gleichviel ob es dahin gehörte oder nicht. So wurden z. B. im Mittelhochdeutschen folgende Wörter durchweg ohne e geschrieben: Biene, dieser, Fiedel, Giebel, Gier, Kiefer, Kiel, Kies, Kiesel, (hin)nieden, nieder usw. Auch bei dem sogenannten Dehnungs-e ist es also heute sehr schwer, herauszufinden, ob es berechtigt ist oder nicht.

Die größte Verwirrung 'aber zeigt sich in der Geschichte der Groß­buch­staben. Im Mittel­hochdeutschen wurden große Anfangs­buchstaben nur gebraucht, wenn dem Schreiber eine besondere Verzierung der Schrift angebracht erschien, nämlich am Anfang von Strophen oder von größeren Abschnitten und bei Eigennamen. In der schon erwähnten Schreibverwirrung des 15. und 16. Jahrhunderts aber begann man auch solche Namen groß zu schreiben, die man mit besonderer Achtung aussprach, z. B. die Namen Gottes, Titel von Standespersonen usw. Später schrieb man auch andere Substantive groß, wenn sie durch den Redeton hervorgehoben werden sollten. Daß dabei die größte Willkür herrschte, liegt auf der Hand. So heißt es bei Luther: „Vom wolff vnd lemlin. Ein wolff vnd lemlin kamen on geferd beide an einen bach zu trinken, Der wolff trank oben am Bach das Lemlin aber fern vnden.“ – Oder: „Von der Stadmaus und feldmaus. Eine stadtmaus ging spatzieren und kam zu einer feldmaus.“ – Vielfach schrieb man nicht nur den ersten Buchstaben groß, sondern auch den zweiten, den dritten oder sogar das ganze Wort. Aber auch in dieser Hinsicht fanden sich die mannigfachsten Schwankungen. So heißt es z. B. in der Lutherschen Bibelausgabe vom Jahre 1545: „Aus der tieffen rufe ich HERR zu dir. HErr hoere meine stimme. – Meine seele wartet auff den HErrn Von einer Morgenwache bis zur andern. Israel hoffe auf den HERRN, Denn bey dem HEERN ist die gnade vnd viel erloesung bey jm“. In der Ausgabe von 1522 finden wir am Anfange der Bergpredigt „Da“, in der Ausgabe von 1545 „DA“. Zuweilen gefiel man sich sogar darin, statt des ersten den zweiten Buchstaben groß zu schreiben, z. B. „uNtreue“.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts begann man alle Substantive groß zu schreiben, und endlich ging man dazu über, alle substantivierten Redeteile mit großen Anfangs­buchstaben zu bezeichnen. Damit aber „brachte man ein ganz unbestimmtes und unbestimmbares Gesetz auf, und mit diesem war gelehrten und ungelehrten Düftlern ein Feld eröffnet, die aller­subtilsten Regeln aus­zuspintisieren und haarspaltende Unterscheidungen zu machen. Da wurde mit einer Hartnäckigkeit und Ausdauer, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre, darüber gestritten, ob nichts Gutes, etwas Neues“ oder Nichts gutes, Etwas neues“ zu schreiben sei; da wurde zwischen ein „paar Nüssen“ und „ein Paar Stiefel“ unterschieden, zwischen abends und des Abends; da wurden die Pronomina Nie­mand, Jemand und Jedermann zu Substantiven erhöht (?), die gleiche Ehre aber: keiner, mancher, einige, viele usw. versagt. – Und nun erst die unzähligen Verbalbegriffe, die mit Substantiven gebildet werden! Da werden uns Finessen aufgetischt wie: lobsinget dem Herrn! wir haben ihm Lob gesungen! haushalten – er hält Haus usw. Ist es möglich, sich aus diesem Labyrinth herauszufinden? Nein, nicht einmal der Ariadnefaden des ausführlichsten Lehrgebäudes kann uns ans Licht führen wir waren und bleiben mit dem Großschreiben „im Dunkeln“, wo wir auch bei der vorsichtigsten Bewegung bald rechts, bald links anstoßen und straucheln. Wo sollen wir Rettung aus diesem Schreibelend finden?“

So schrieb schon im Jahre 1881 Provinzial­schulrat Linnig, und er dürfte der Zustimmung vieler sicher sein. Wie sollen wir aber Rettung aus dem Schreibelend finden? Nun, indem wir endlich einmal den Mut haben, mit einem Prinzip zu brechen, das sich bei näherem Zusehen als gänzlich unhaltbar erweist, nämlich mit dem historischen. Wir haben gesehen, daß vieles, was bei oberflächlicher Betrachtung als Produkt streng historischer Entwickelung erscheinen könnte, in Wirklichkeit die Ausgeburt reinster Willkür ist, einer Willkür allerdings, die jetzt schon durch jahrhundertelangen Brauch geheiligt ist. Wenn aber unsere Väter nicht davor zurückschreckten, die Sprache willkürlich zu verschlechtern und mit allerhand unnützem Tand zu belasten, so liegt für uns kein Grund vor, die Sprache nicht wieder zu entlasten und mehr zur Natur zurückführen. Darum weg mit dem historischen Prinzip, und das phonetische trete mehr in den Vordergrund.

Allerdings werden sich gegen eine streng phonetische Schreibung verschiedene Bedenken erheben. Zunächst weist man darauf hin, daß wir selbst unter den Gebildeten zuviel dialektische Eigentümlichkeiten haben. Der Ostpreuße spricht anders als der Schlesier, der Sachse anders als der Bayer, der Hesse anders als der Mecklenburger usw. Und doch haben wir heute trotz dieser sprachlichen Verschiedenheiten eine einheitliche Schreibweise. Es könnte sich also nur die weitere Frage erheben, welche Sprache man zur Grundlage der phonetischen Schreibweise machen sollte. Auch diese Frage ist nicht so schwer zu lösen, wie es auf den ersten Blick erscheint. Wir besitzen bereits eine Sprache, die sehr wohl diese Grundlage abgeben könnte, das ist die Bühnen­sprache. Ist sie auch, wie Siebs sagt, auf die Fernwirkung berechnet, ein Ideal, das nicht von allen erreicht werden kann, so ist sie doch ein musterhaftes Deutsch, das von allen Deutschen verstanden wird.

Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, daß vielleicht in ferner Zukunft einmal auf Grund einer solchen Mustersprache ein rein phonetisches System aufgebaut wird. Daß das aber in absehbarer Zeit geschehen könnte, ist kaum anzunehmen; denn dazu weichen z. B. die Bezeichnungen des Vereins für lauttreue Rechtschreibung, so löblich sein Bestreben an sich ist, gar zu sehr von dem Herkömmlichen ab. Die Abweichungen sind so bedeutend, daß man eine in derartigem Deutsch gedruckte Zeitschrift zuerst nur mit Mühe lesen kann. Natürlich würde die Gewohnheit diese Schwierigkeit bald überwinden; aber trotzdem wird das Ideal der rein phonetischen Schreibung noch auf absehbare Zeit ein frommer Wunsch bleiben.

Und doch könnten viele Ver­besserungen an unserem Rechtschreibe­system herbeigeführt werden, Ver­besserungen, welche die heutigen Schwierigkeiten auf ein Mindestmaß herabsetzen würden.

Dazu gehört zunächst die Ausmerzung überflüssiger Buchstaben, wie des c, des qu, des x und des y; auch das v könnte ihnen nachfolgen. Diese letzte Forderung könnte als sehr radikal erscheinen. Sie ist es jedoch gar nicht, und gerade zu ihrer Begründung können wir die historische Entwickelung ins Feld führen. Im Mittelhochdeutschen wurden nämlich Wörter wie Fackel, Fach, Faden, fahl, fahnden, Fahne, Fähre, fahren, Falke, fallen, Farbe, fasten und viele andere durchweg mit v geschrieben, und überall hat es im Neuhochdeutschen dem f weichen müssen. Nur vor den 13 deutschen Wörtern Vater, Vetter, Vieh, viel, vier, Vließ, Vogel, Volk, voll (neben füllen, Fülle!), von, vor (neben für!), vorder (neben fördern) vorn und der Vorsilbe ver hat diese Entwickelung Halt gemacht. Ein Grund dafür ist um so weniger einzusehen, als man schon im Althochdeutschen fater, fetiro, fiho, filu, fior, fléos (angelsächsisch), fogal, fole, fol, fona, fora, fordar, forna, fer schrieb. Die Schreibung mit f würde also nur zu der ursprünglichen Form zurückkehren.

Wünschenswert wäre jedenfalls auch eine Vereinfachung der Schriftzeichen, namentlich für das bisherige ch und sch und für die S-Laute. Was in dieser Hinsicht im Lateinischen möglich ist, sollte bei uns nicht unmöglich sein.

Sodann sollte man die Wörter mit offenem e, bei denen „ein verwandtes Wort mit a nicht fern liegt“ (§ 3 des Regel- und Wörterbuchs), auch wirklich mit ä schreiben; ebenso könnte es wohl nichts schaden, wenn schneuzen (von Schnauze!), Leumund usw. mit äu geschrieben würden und wenn man nicht bläuen (blau färben) und bleuen (schlagen), gräulich (von grau) und greulich (von Greuel) unterschiede.

Durchgreifend müßte sodann bei den Schärfungs- und Dehnungs­zeichen verfahren werden, und zwar könnte man entweder die Schärfungs­zeichen beibehalten, dann wären die Dehnungs­zeichen entbehrlich, oder umgekehrt. Da wir nur ein Zeichen für die Schärfung, aber drei verschiedene Zeichen für die Dehnung besitzen, ist natürlich die erste Vereinfachung vorzuziehen. Diese Forderung ist übrigens durchaus nicht neu; sie wurde schon von Karl Weinhold verfochten, der die Sätze aufstellte:

1. Die Verdoppelung der Vokale wird aufgehoben.

2. Das Dehnungs-h wird beseitigt.

3. Wo in ie e Dehnungszeichen ist, wird es getilgt.

Diese Forderungen wurden später von Wackernagel, O. Vilmar u. a. ebenso nachdrücklich wie vergeblich vertreten; nur in bezug auf Punkt 1 wurde einiges gebessert. Nun sollte man aber endlich einmal reinen Tisch machen; denn wenn wir Schärfungszeichen haben, sind die Dehnungszeichen überflüssig.

Die Schärfung müßte dann aber auch konsequent durchgeführt werden. Vor allem sollte man sich an folgende Regel halten: „Nach kurzem Selbstlaut schreibe im Inlaut den darauffolgenden Mitlaut doppelt, im Auslaut einfach. Folgen auf einen kurzen Vokal zwei oder mehrere Konsonanten, so unterbleibt die Verdoppelung“. Wir müßten dann also schreiben:

Der Man, des Mannes; der Schrit, die Schritte; die Nachtigal, die Nachtigallen; kann, können usw.

Das erscheint auf den ersten Blick fremdartig, während wir es ganz natürlich finden, wenn wir schreiben:

mit, mitten; in, innen; bin, binnen; Königin, Königinnen; des, dessen; wes, wessen; Iltis, Iltisse usw.

Allerdings müßten dann vielleicht lange Vokale vor einem Konsonanten bezeichnet werden; doch dürfte dies, darin kann man dem Verein für vereinfachte Rechtschreibung folgen, kein Buchstabe sein, der, wie das Dehnungs-h oder das e, für gewöhnlich Lautwert besitzt. Ein solches Zeichen zu finden, dürfte nicht allzu schwer sein. Vielleicht käme man aber auch, worauf ein weiter unten erwähnter Versuch hindeutet, ohne solche Dehnungs­zeichen aus.

Die gründlichste Änderung aber, das hat das Experiment bewiesen, tut bei der Groß- und Klein­schreibung not. Man könnte vielleicht den Ausweg wählen, daß man mehr Freiheiten als bisher gestattete. Heute darf man z. B. schreiben:

Morgens und morgens, Nachts und nachts, Vormittags und nachmittags, zu Tage und zutage, in Betreff und in betreff, zu Schanden, zu schanden und zuschanden, zu Schulden, zu schulden und zuschulden usw.

Warum nicht auch:

heute nacht (und heute Nacht), heute morgen (und heute Morgen), morgen vormittag (und morgen Nachmittag)?

Warum muß geschrieben werden:

im folgenden, aber: das Folgende, im obigen (= weiter oben), aber: das Obige (das oben Erwähnte), zum erstenmal, aber: zum ersten Male usw.?

Würden diese Freiheiten gestattet, so wären die ärgsten Schwierigkeiten beseitigt; aber einmal dürfte ein solcher Zustand ernste Naturen kaum befriedigen, und zum andern blieben immer noch Schwierigkeiten genug. Daher mache man gleich ganze Arbeit, man folge dem Beispiele anderer Völker und beschränke die Großschreibung auf die Satzanfänge und die Eigennamen. Ein triftiger Grund gegen diese Maßnahme dürfte kaum geltend gemacht werden. Der historische ist bereits entkräftet worden. Ob die vielen Groß­buchstaben die Schnelligkeit des Lesens beschleunigen, ist eine bis jetzt völlig unbewiesene Behauptung; sollte sie aber wirklich zutreffend sein, so würde der durch Verminderung der Großbuchstaben entstehende Zeitverlust vielfach wieder wett gemacht durch die Zeit­ersparnis bei der Erlernung der Großschreibung. Auch der oft ins Feld geführte grammatische Grund, daß nämlich die Groß­buchstaben zum Erkennen der Hauptwörter nötig seien, ist nicht stichhaltig; denn schon Linnig sagt: „Dem Ungebildeten kann es ganz einerlei sein, was ein Hauptwort ist; er muß die grammatischen Unterschiede ja eben nur lernen, um zu wissen, was er groß schreiben soll. Wenn aber die Jugend z. B. beim Übersetzen erst aus dem Großschreiben lernen soll, was ein Hauptwort ist, so ist zu beklagen, daß sie für die Unterscheidung von Zahlwort, Fürwort usw. keinen solchen Anhalt hat, vielmehr durch die groß geschriebenen Adjektiva und Verba mehr irregeführt als geleitet wird“.

Würden aber die vorgeschlagenen Reformen wirklich eine große Erleichterung bedeuten? Auch diese Frage kann nur auf experimentellem Wege beantwortet werden, und ein derartiges Experiment liegt bereits vor. Das oben im Wortlaut wieder­gegebene Diktat wurde nämlich nach Bekanntwerden der Resultate von einigen Klassen der stenographischen Fortbildungs­schule in Breslau (System Stolze-Schrey) niedergeschrieben. Dabei wurden folgende Resultate erzielt:

23 Schüler höherer Lehr­anstalten, die vor kurzem einen stenographischen Anfangskursus beendet hatten, machten 0–6, im Durchschnitt 2⅔ Fehler.

14 Volksschüler, die bereits stenographischen Fortbildungsunterricht genossen hatten, lieferten Arbeiten mit 0–4, durchschnittlich 1½, Fehlern.

Bei 30 Volksschülerinnen endlich, die ebenfalls schon an Fortbildungskursen teilgenommen hatten, fanden sich im Durchschnitt 1,6 Fehler.

Dabei waren, wie der Leiter bemerkt, die meisten Fehler nicht orthographische, sondern Systemfehler. Rechnet man diese ab, so ergibt sich die für den Uneingeweihten überraschende Tatsache, daß das Diktat, bei dem die Vertreter der gelehrten Stände im Durchschnitt etwa 20 Fehler gemacht hatten, von den Volksschülern größtenteils fehlerfrei geschrieben wurde.

Den Stenographiekundigen freilich wird das Ergebnis nicht überraschen; denn er weiß, daß die Kurzschrift weder die Dehnungs­zeichen noch große Anfangs­buchstaben kennt. Und trotzdem haben häufig angestellte Leseversuche erwiesen, daß die Lesefertigkeit und das Verständnis dadurch kaum beeinträchtigt wird; damit ist der Beweis erbracht, daß wir ohne Großschreibung und Dehnungs­zeichen ganz gut auskommen könnten. (Daß wir namentlich den Gebrauch der Großbuchstaben in dem geforderten Umfange beschränken könnten, haben schon längst die erkannt, die durch ihr Studium gezwungen sind, sich am ein­gehendsten mit der Entwickelung der deutschen Sprache zu befassen: die Germanisten. In ihren Fachzeitschriften finden wir den großen Anfangs­buchstaben nur noch bei Eigennamen und bei Satzanfängen, und es ist bezeichnend, daß ein namhafter Vertreter dieser Wissenschaft seinen Hörern erklärte, sie könnten schreiben wie sie wollten, er schreibe auch seine eigene Orthographie.)

Ist die Frage der Reform unserer Rechtschreibung aber wirklich so brennend, oder mißt man ihr vielleicht einen zu großen Wert bei? Um diese Frage zu entscheiden, braucht man nur ins Leben hineinzugreifen. Man denke zunächst an die Aufnahme­prüfungen an höheren Schulen. Was wird von den Schülern verlangt? Die Lösung einiger Rechenaufgaben und ein Diktat. Machen sie in diesem mehrere Fehler, so sind sie nicht reif für die Anstalt und werden nicht aufgenommen, und das bedeutet in den meisten Fällen mindestens den Verlust eines kostbaren Jahres, unter Umständen bleibt die Anstalt dem Schüler sogar ganz verschlossen.

Und wie bei der Aufnahme, so beim Abgange. Wie mancher Prüfungsaufsatz ist schon wegen einiger Verstöße gegen die Rechtschreibung geringer bewertet worden, wie mancher, der vielleicht noch mit „genügend“ passiert wäre, hat schließlich ein „Ungenügend“ erhalten und das Nichtbestehen der Prüfung zur Folge gehabt.

Ganz ähnlich ist es im praktischen Leben. Es bewirbt sich jemand um eine Stelle, er erhält sie jedoch nicht, weil er die Orthographie nicht ganz sicher beherrscht, ein Zeichen, daß er nicht befähigt ist: Als ob sie der Chef selber beherrschte. Man prüfe ihn mit unserem oder einem ähnlichen Diktat, und er wird vielleicht eine andere Meinung von dem Wert oder dem Unwert der Rechtschreibung bekommen.

Das Schlimmste aber ist, daß im Unterrichte so unendlich viel Zeit für ein im Grunde so unfruchtbares Wissen geopfert werden muß. In den Vorschulen werden vielfach wöchentlich drei Stunden allein für Orthographie aufgewendet. In den anderen Unterrichts­anstalten ist es zwar nicht so schlimm; indessen beläuft sich auch in diesen während der ganzen Schulzeit die Zahl der Rechtschreibe­stunden auf viele Hunderte, ganz abgesehen von der Zeit, die nebenbei in anderen Fächern für die Orthographie darangesetzt werden muß. Und doch ist alle Mühe eigentlich vergeblich, denn wie wir gesehen haben, kommen die Schüler infolge der ungeheuren Schwierigkeiten doch nicht zur völligen Beherrschung unserer Wortformen. Diese Zeit könnte wahrlich für etwas Besseres verwendet werden.

Dazu kommt, daß dieser Unterricht den Kindern nicht die mindeste Freude macht. Vor einigen Jahren wurde bei Tausenden von Schülern der verschiedensten Schul­gattungen eine Umfrage nach der Beliebtheit der Unterrichtsfächer veranstal­tet. Dabei zeigte sich, daß keine Disziplin auch nur annähernd in dem Maße abgelehnt wurde wie die Sprachlehre. Es ist das auch nicht verwunderlich; denn die Beschäftigung mit einer so trockenen Materie, wie sie unsere Rechtschreibung ist (und in den Volksschulen steht auch die Grammatik fast ausschließlich im Dienste der Rechtschreibung), wird den Kindern bald zum Überdruß, ja zum Ekel.

Würde unser orthographisches System wesentlich erleichtert, dann könnte auch der Unterricht in der Sprachlehre weit interessanter gestaltet werden als heute, dann könnte man mehr in die Tiefe gehen, dann könnte man den Schülern die mannigfachen Formen und Schönheiten unserer Sprache zeigen, dann würde ihnen eine Ahnung davon aufgehen, warum der Dichter singt:

„Sprache schön und wunderbar,
Ach, wie klingest du so klar,
Will noch tiefer mich vertiefen
In den Reichtum, in die Pracht;
Ist mir's doch, als ob mich riefen
Väter aus des Grabes Nacht“.

Bei dem heutigen Betriebe, bei dem so unendliche Schwierigkeiten sich auftür­men, muß jedoch die Langeweile Platz greifen, und die Langeweile ist bekanntlich nach Herbart die größte Sünde des Unterrichts.

Darum tut es dringend not, daß endlich in eine gründliche Reform unserer Rechtschreibung ein­getreten werde. Wie weit man darin im einzelnen gehen soll, darüber können und werden die Meinungen geteilt sein.

Die Hauptsache ist, daß überhaupt etwas geschieht. So wie bisher kann es jedenfalls nicht weiter gehen; denn eine Rechtschreibung, die selbst von den Gebildetsten im Volke nicht beherrscht wird, hat ihr Daseins­recht verwirkt, und je eher sie verschwindet, desto besser.

Wie verlautet, soll demnächst wieder eine Kommission zur Reform unserer Rechtschreibung zusammen­treten. Sollte dies der Fall sein, so müßte man sich von vornherein vor einem Fehler hüten, vor dem Fehler nämlich, diese Kommission nur aus Fachgelehrten zusammen­zusetzen; denn der Fachgelehrte ist nur zu leicht geneigt, die Schwierigkeiten seines Faches zu unter­schätzen. Deshalb gehören in die vor­beratende Kommission außer den Fach­gelehrten, die natürlich nicht fehlen dürfen, Männer der Praxis, Männer, die den ganzen Jammer unserer orthographischen Schreibweise täglich am eigenen Leibe erfahren, wie Buchhändler, Buchdrucker, Lehrer verschiedener Schul­gattungen; auch Stenographen könnten manchen wichtigen Fingerzeig geben. Wird die Kommission derartig zusammen­gesetzt, dann, aber nur dann können wir hoffen, daß etwas Gründliches, etwas Durch­greifendes geschieht, dann werden wir eine Rechtschreibung erhalten, die auch von dem weniger Gebildeten ohne große Schwierigkeiten erlernt werden kann, dann werden aber auch Millionen von Eltern, von Lehrern und namentlich von Schülern den Tag segnen, an dem die neue Rechtschreibung in Kraft tritt.